„Karteileichen“ von Stefan Jahnke



Cover Karteileichen
Wirtschaftsthriller
Paperback,
308 Seiten
Books on Demand, Norderstedt
Mai 2011
ISBN 978-3-8423-6460-8



Herbst 2010. Das mexikanische Restaurant im Dresdner Stadtteil Gruna brennt nieder. Brandstiftung oder Unfall? Kommissar Mende von der Wirtschaftsabteilung des LKA Sachsen ermittelt. Der vermutete Versicherungsbetrug ist eine Sackgasse. Verbindungen zu bisher unaufgeklärten Einbrüchen und Gewalttaten sind unwahrscheinlich. Groß angelegte Enteignungen von Grund und Boden in der längst nicht mehr existierenden DDR und deren gewollte Vertuschung bis heute scheinen eine Rolle zu spielen.
Wer verkaufte Restaurantbesitzer Ebert jenes Grundstück, auf dem vor Jahren eine Tankstelle entstehen sollte? Was wurde aus dem rechtmäßigen Eigentümer und dessen Freundin? Wie konnte sich 1984 die kommunale Wohnungsverwaltung nur eine Querstraße weiter bei der Rekonstruktion eines Privathauses in der Hausnummer irren und warum musste darum ein überzeugter DDR-Bürger wegen Republikflucht ins Gefängnis, wurde nach dem Mauerfall gar mittels unklarer Indizien für einen Mord verurteilt, den er nicht begangen haben konnte?
Während Mende seiner Kollegin näher kommt und ganz nebenbei erkennen muss, dass der deutsche Einigungsvertrag mehr Fluch als Segen bereithält, verhärtet sich ein weitaus schlimmerer Verdacht in Gruna.
Der neue spannende und turbulente Wirtschaftsthriller von Stefan Jahnke.



Leseprobe

Kapitel 3 - Strom ist nicht gleich Strom (Auszug)

"Natürlich sehe ich mir den Röster an, Frau Schneider. Ist doch keine große Sache. Nur ein paar Spiralen und die Leitung. Der Schalter kann kaputt sein. Oder eben ein Kontakt lose. Lötstellen… immer anfällig. Um so eher ich… ja, danke."
Herr Günzel lacht in sich hinein. Früher hatte er Angst vor der Frau Schneider. Die konnte doch nichts für sich behalten und hatte dann auch noch irgendwelche Spitzen, die sie einem sagte oder genüsslich verschoss. Dass man dann im ganzen alten Dorf Gesprächsthema Nummer eins war… na ja, das Dorf verschwand längst. Kaputt und weg. Und er… er ist immer noch da. Niemals hätte er gedacht, dass er sich mal mit den ganzen neumodischen Geräten der Nachbarn beschäftigen würde. Aber Not macht erfinderisch. Wenn man ein Berufsverbot bekommt, weil der Vater ein hohes Tier bei der SS war, dann auch noch hört, dass es den Kindern im Westen nicht so gut geht, weil ihr Vater angeblich im Osten mit allen kollaboriert, da kann man nur die Notbremse ziehen… Ja, die Kinder haben immer nur ihren Ärger im Kopf. Aber sonst? Für ihn reicht es.
Der Fön von Stellmachers ist fertig. Die holen ihn doch sicher allein ab. Noch den Leuten hinterherrennen? Für die paar Pfennige… na ja, die sind geizig. Er weiß nicht, warum. Hausbesitzer. Verstrittene Schwestern. Wenigstens die Anderen im Viertel sind ganz anders.
Vorsichtig sortiert er die verschiedenen Stecker. Die schmoren am schnellsten. Was die Leute aber auch immer machen. Schnell geht das. Nicht richtig in die Dose gesteckt und schon… na ja, oder eben der Versuch, einen normalen Stecker in so eine neumodische Schukodose zu bekommen… lebensgefährlich. Trotz Schutzkontakt. Wenn nicht das, dann doch zumindest verrückt.
"Herr Günzel, guten Tag. Ich komme von der Bauaufsicht. Können wir uns unterhalten?"
Der Mann sieht gut aus. Sehen die doch alle, die irgendwie die Leiter nach oben kriechen konnten, oder? Er bittet den Mann in seine ‚gute Stube'. Hier gibt es nur zum Sonntag eine Tasse Kaffee. Heute ist eine Ausnahme. Natürlich bei jedem Besuch… heute eben aber auch.
"Was kann ich für Sie tun, Herr… ähm… wie war Ihr Name?"
Der Mann geht über diese Frage hinweg, packt einen Plan aus, den er auf dem kleinen Tisch nur zum Teil ausbreiten kann. Dann setzt er umständlich eine Brille auf, die ihm wohl ein wissenschaftlich-wichtiges Aussehen geben soll. Günzel vermutet, dass da nur Fensterglas im Rahmen steckt. Er lacht in sich hinein.
"Kennen Sie das Aufbauprojekt der Stadt Dresden? Natürlich kennen Sie das. Die Innenstadt hat ja in den letzten Jahren viele neue Bauten bekommen. Ein ganz anderes Gesicht. Endlich mal was Modernes. Nicht diese alten Bauten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass uns die Amerikaner und die Briten einen Freundschaftsdienst erwiesen, als sie… nun ja, das bleibt aber unter uns, Herr Günzel, nicht wahr? Ja, warum bin ich nun hier?"
Der Elektriker stellt Wasser auf den Tisch. Staatsgewalten soll man nicht mit Alkohol locken. Zu schnell kommen die auf die Idee, sich auf private Kosten zu besaufen. Und was dann herauskommt… na, die Staatssicherheit hat wohl auch schon einige Leute festgenommen, die doch nur Spaß machten. Gesehen haben soll man sie anschließend nie wieder. Aber das hier… der Typ… der gleich den ganzen Tisch voller Pläne legt, der kann nicht wirklich was trinken wollen. Dann bekommt er eben Margonwasser. Selters, wie Günzel das Zeug mit dem Geprickel immer nennt. Die Flaschen sehen zwar furchtbar aus, müssten sicher nur mal ausgetauscht oder neu gegossen werden, aber man macht es nicht. Wird immer wieder gefüllt, bis alles kaputtgeht.
"Danke. Ist aber auch eine trockene Luft hier!"
Der Mann will Spaß machen, alles locker darstellen. Was ihn wirklich hertreibt? Günzel hat keine Ahnung. Nur eben… ein ganz dummes Gefühl. Gerade, wenn es doch diesen komischen Plan gibt. War da nicht diese Familie drüben in Striesen? Ja, er erinnert sich. Bis dahin geht sein Kundenkreis. Kamen mit einem Staubsauger, bei dem im Motor nur ein paar Windungen durchschmorten. Leicht zu reparieren. Die PGH hätte viel genommen oder es einfach nicht gemacht. Die tauschen nur noch aus… Motor kaputt? Motor raus, neuer rein. Pech, wenn es keine neuen mehr gibt.
Was erzählten die? Sie wollten an ihr altes Haus nur einen Vorbau anbauen und darauf ein Bad oder so. Hat er damals nicht richtig hingehört. Die Stadt genehmigte es schließlich. Aber weil man irgendwann an der Fetscherstraße eine Brücke hinüber zum Waldschlösschen bauen will, mussten sie unterschreiben, dass sie einem Abriss ihres Anbaues zustimmen, wenn der Brückenbau beginnt. Soviel Günzel weiß, plant man an der Elbquerung schon seit Hitlers Zeiten. Vielleicht auch länger. Nicht ohne Grund wurde die Fetscherstraße von der Elbe bis zum Großen Garten so breit angelegt. Wohin der Verkehr danach abfließen kann? Nun, er ist Elektriker. Zumindest wurde das seine Passion… und jetzt auch sein Broterwerb.
"Also, Herr Günzel, wir wollen bauen. Viel Neues natürlich. Und hier an der Bodenbacher Straße haben wir so viel vor. Dazu brauche ich Ihre Unterstützung. Nicht nur ich. Die ganze Stadt. Sie wissen doch. Jeder Einzelne zählt!"
Unterstützung? Vater meinte vor Jahrzehnten, dass man erst um einen kleinen Finger gebeten wird und dann hat man schnell die ganze Hand los. Alles Betrüger.
Traurig sieht er auf die Bilder von früher. Mutter war eine Gute. Sie verstand es, aus allen Situationen was zu machen. Nicht umsonst fand sie genügend starke Hände, die das arg beschädigte Haus wieder aufbauten. Und weil sie sich damals alle an die Vorgaben und Zeiten hielten, machte ihnen auch niemand Platz und Gebäude streitig, obwohl es ab der ersten Etage schon recht windschief und nur aus Holz gebaut ist. Unten… fester Ziegelbau. Aber die Bombe im Garten hatte eben alles oben weggefegt. Na ja, lange her. Heute sein zuhause. Das werden die doch nicht…? Nein, oder? Warum sollte man ihn sonst ansprechen?
"Kennen Sie den Herrn Tippmann, Herr Günzel? Ja, natürlich kennen Sie ihn. Wer denn nicht in dieser Gegend, nicht wahr? Also, der… oh, wer ist denn das?"
Fiffi kommt unter dem Sofa hervor. Da versteckt er sich am Liebsten. Ist eben ein kleiner Pudel, der allen einen Schabernack treiben kann, aber doch alle lieb anwinselt.
"Ist ja süß. Ihrer? Natürlich Ihrer. Ein Mann wie Sie braucht doch einen Freund. Ja, die Zeit… wie das alles… also, wo war ich? Bei Herrn Tippmann, nicht wahr? Ja, der zog vorn ins Hochhaus. War eine sehr kluge Entscheidung. Natürlich bleibt das Haus auf der Zwinglistraße stehen. Aber so eine große Wohnung brauchte dieser eine Mann nun auch nicht. Jetzt wohnt da eine junge Familie. Arbeiter. Er. Sie ist noch in Ausbildung. Aber schon ein Kind. Man kann sich eben zeitig entscheiden. Gut so, nicht wahr? Und Herr Tippmann ist zufrieden. Aufzug, schöne Sicht, wenig aufzuräumen und unten gibt es gar noch eine kleine Gaststätte, wo er ganz billig essen gehen kann. Na ja, und die Volkssolidarität ist auch gleich an der Karcherallee. Kennen Sie? Ach, gehen Sie auch hin? Gut so. Ist wirklich ein tolles Angebot. Und man trifft viele andere alte Menschen… nein, nicht zu alt… eben rüstig natürlich."
Günzel fühlt sich überfordert. Der Mann redet in einem Fort. Nicht einmal scheint der Luft zu holen und er soll ihm folgen… das konnte er nie gut. Ist halt auch kein Studierter. Davor hat ihn die alte Stellung des Vaters erst recht bewahrt. Hätte er in den Westen gehen müssen. Aber damals war Mutter noch zu pflegen. Ging also nicht. Und dann klick… Mauer zu. Keine Chance. Jetzt könnte er sicher reisen. Er lässt es lieber. Ehe sie ihn nicht wieder reinlassen… auch das soll es schon gegeben haben.
Plötzlich neigt sich der Besucher vertraulich zu Günzel, sieht ihm scharf in die Augen und klopft auf die Karte vor ihnen.
"Hier, Herr Günzel, hier… da soll ein kleines Einkaufszentrum hin. Ich plane sogar, dass man das noch ausweitet. Vielleicht können wir irgendwann den Altstoffhandel integrieren. Oder der kommt eben weg. Sieht sicher nicht schön aus, so neben dem dann neuen Haus."
Fassungslos sieht der Elektriker auf die Karte. Ja, natürlich. Da sind die Straßen. Dort steht sogar dieser kleine Bau, wo die Kinder manchmal drin zündeln. Nicht nur gefährlich, auch noch sehr einsam mitten unter allen. Was soll das alles…? Wo ist sein Haus? Da steht… da hat irgendwer etwas ganz anderes hingemalt. Dieses Einkaufszentrum etwa? Er will aber nicht…
"Herr Günzel. Ich weiß, das ist überraschend für Sie. Aber Sie bekämen eine ganz neue Wohnung. Und vielleicht können wir sogar noch etwas mit Ihrer Rente machen. Dann müssten Sie diese ganzen Reparaturen nicht mehr…"
Günzel steht langsam auf, greift sich Fiffi, geht in der Stube hin und her. Als wenn er Abschied nehmen will, schaut er die Bilder an. Das eine Gemälde hat mal seine Urgroßmutter erworben. Sieht schön aus. Eine weite Landschaft und ein kleines Haus in der Mitte. Bis zu ihrem Tode behauptete sie, dass dies irgendwo im alten Gruna wäre. Nein, kann doch nicht sein, oder? Aber irgendwo sah er schon einmal Mühlen. Sollen auch nicht weit weg gewesen sein. Heute steht da eine Gaststätte mit dem Namen ‚Windmühlenberg'. Drüben in Striesen. Da, wo um die Ecke die Kirche im Bombenhagel verschwand.
Verschwand…
Schwer stützt er sich auf den Tisch, schaut noch einmal auf den Plan. Sein Besucher grinst etwas vor sich hin. Denkt sicher, dass das ein leichtes und einfaches Spiel wird. So ein alter Mann kann doch nicht viel entgegensetzen, oder?
Pha… er ist stark. Er hat gelernt, zu überleben und zu kämpfen. Das allein zählt. Er will… er muss… er hat doch… na ja, er wird nicht aufgeben. Nicht so einfach. Überhaupt nicht… das wohl eher. Lieber nicht von der Leiche reden, über die sie müssen, wenn sie ihn hier heraus… der sieht so aus, als wenn der das dann sogar ernst nehmen könnte. Gefährlich. Ganz klar!
"Nun, Herr Günzel. Ich lasse Ihnen mal ein wenig Zeit. In der Zwischen… na ja… also ich gebe Ihnen hier die Adresse von der Frau Krause. Gehen Sie zu der und lassen sich eine der schönen Wohnungen im Hochhaus zeigen. Wird Ihnen sicher gefallen. Mit Balkon. Man kann sich auch rausstellen, wenn der Verkehr tobt. Kein richtiger Krach da ganz hoch oben. Das verfliegt eben in alle Richtungen. Sie verstehen?"
In Gedanken versunken nickt Günzel. Nein, als er heute Morgen aufstand, hatte er keine Ahnung, dass man ihm so übel mitspielen würde. Was die sich denken… aber er wird sich nichts überlegen müssen. Er bleibt. Das ist sein Haus, er bezahlt die Steuern und hat keine Schulden. Natürlich werden sie kommen und nachprüfen, wie er denn lebt, wie er sein Geld verdient und was er wirklich dafür tut. Vielleicht finden sie dann bei ihm alten Mann einen Grund, um ihm eine Strafe nach der anderen aufzubrummen. Wie war das beim Zengler, drüben bei den Zahnrädern? Der Mann stellt die alle allein her. Hat nur ein paar Gerätschaften und Maschinen. Früher besaß er angeblich eine Fabrik… sein Vater eher. Aber jetzt? Nein, komisch war das schon. Plötzlich kam eine Kontrolle und die hatten Zahlen von Zahnrädern, die er hergestellt haben sollte, dass man sich das gar nicht vorstellen konnte. Der alte Mann fiel aus allen Wolken und musste eine große Summe Strafe zahlen. Gleich zugemacht hat er den Laden. Das passte auch wieder einigen nicht und dann bekam er eine Sondergenehmigung und sogar einen Teil der Strafe erlassen. Tja, sollte man sich eher überlegen… wenn niemand Zahnräder in so guter Qualität herstellen kann, wie er es tat, dann kann man ihn nicht einfach zur Aufgabe zwingen. Aber er? Günzel? Oh, ein paar Staubsauger weniger, die funktionieren, einige Familien mehr, die sich über die PGH ärgern und solche Dinge. Doch ansonsten? Wer sollte ihn schützen? Manchmal haben sich die Leute ringsum schon aufgeregt. Es würde stinken aus seinem Haus. Ja, die Klärgrube… wurde lange nicht mehr geleert. Doch das hat was mit Wind und Hitze zu tun. Nicht mehr und auch nicht weniger. Sollen sich nicht so haben, diese… Nur die Schreibwarentante war für ihn. Aber die mag hier auch niemand.
"Auf Wiedersehen, Herr Günzel. Ich komme dann so in einer Woche wieder. Wäre schön, wenn Sie sich dann vielleicht ein paar positive Gedanken gemacht hätten? Sollte Ihnen doch keine Umstände bereiten… Sie verbessern sich. Auf jeden Fall tun Sie das. Können Sie mir ruhig glauben!"
Glauben. Nein. Sicher nicht.

Am nächsten Tag sitzt Günzel bei Fiedlers. Man akzeptierte sich bisher, ging sich aber meist aus dem Weg. Der Günzel sammelt eine Menge Schrott und kann aus Blech und ein paar Schrauben manch interessantes Schmuckstück für Gärten basteln. Die Seite, die er wirklich nur als Freizeitbeschäftigung sieht, heute sagt man wohl Hobby dazu. Und die Fiedlers wären schon scharf auf die Berge von Blech und Kupfer, die er da liegen hat. Aber man bestiehlt sich nicht. Das ist gegen die Berufsehre. Und die hat nun einmal einige Regeln.
"Sie meinen, dass man Sie da raus haben will? Also ich würde nicht gehen. Ist doch alles in Ordnung bisher!"
Frau Fiedler lacht dabei. Der alte Fiedler, ihr Schwiegervater, wirkt sehr nachdenklich.
"Was mich nervt, ist, dass man dann auch ganz schnell uns abservieren kann. Mein Gott… ist einer weg, sind alle Anderen keine Bastion mehr. Ich glaube, wir sollten zusammenstehen und uns nicht vertreiben lassen."
Sein Sohn zeigt dem Alten einen Piep.
"Mann, Papa… wir sind hier nicht mehr in der Weimarer Republik. Wenn die sich was ausgedacht haben, dann wird das alles Hand und Fuß haben. Die lassen uns nicht einmal richtig Luft holen. Kannst Du mir glauben!"
Luft holen… Günzel zieht sie scharf ein.
"Ich will nicht weg. Nicht mal diese Wohnung da oben will ich mir ansehen. Wozu denn auch? Nein, ich bin hier zuhause. Zuviel Leid, was wir alle hatten. Man kann mir nicht…"
Er weint, wenn er an die Eltern denkt. Alles schienen sie zu verlieren. Er muss doch das Erbe halten. Und wie soll er leben, wenn sich mal was ändert? Vom Geld anderer abhängig sein? Ja, wenn man ein Leben lang gearbeitet hat, dann darf man auch auf eine ordentliche und vor allem ausreichende Rente hoffen. Aber er? Gut, er durfte nicht arbeiten. Nur ein paar Hilfsdienste. Zu schade war er sich wirklich für nichts. Doch dass er dafür nun nichts weiter als ein paar Allmosen erhält, ist auch legitim. Er kommt zurecht. Die Miete kostet ihn nichts und Strom und Wasser… er hat durch die Reparaturen einiges auf der Bank. Aber ohne sein Tun kommt er damit nicht weit.
"Wozu ein Einkaufszentrum? Ich verstehe das einfach nicht. Die haben da drüben so viele neue Geschäfte gebaut. Und die sind nicht einmal schlecht. Nur in dem Intershop war ich noch nicht drin. Aber die anderen… und die große Kaufhalle. Ein Kaufhaus gibt es in der Stadt. Kindergeschäfte auch. Was soll denn noch herzu? Ich dachte früher, als die die kleinen Baracken wegrissen, dass wir nun weniger haben zum Einkaufen. Aber es ist doch mehr. Und eine Bibliothek haben wir auch. Ist das nicht toll?"
Alle nicken.
Fiedler Junior holt ein paar Flaschen Bier hervor. Bis eben dachten sie an einen Höflichkeitsbesuch, doch nun wissen sie alle, dass es um den Grundsatz geht. Was tun? Ja, was tun?

Stunden sind vergangen. Man beschließt, dass sich Günzel die Wohnung im Hochhaus ansehen soll. Wenn es nötig wäre, würden die Fiedlers sogar den Tippmann einladen. Den können sie zwar nicht leiden, aber vielleicht… Man kann nie wissen. Und der hat Erfahrungen mit der Staatsmacht. Keine guten. Klar!
Angetrunken geht man nach Mitternacht auseinander. Günzel kommt nach Hause und wird gleich von seinem kleinen freund Fiffi begrüßt. Ja, denkt er, das ist ein Freund. Der schaut zu mir auf und macht mir Freude. Zuhören kann er auch. Dabei sieht er mich manchmal an, als wenn er mich wirklich verstünde. Kaum zu glauben, aber eben doch fast wahr.
Schnell schneidet der alte Mann seinem Hund ein wenig Fleisch und Wurst auf, vermengt alles mit etwas Brühe, die vom letzten Kochen übrig ist. Fiffi legt sich vor die Schüssel und grunzt beim Kauen. Ja, das schmeckt ihm.

Drei Tage später hat Günzel eine herrliche Aussicht. Frau Krause zeigt ihm alles und er staunt nur.
"Nicht einmal den Müll müssen Sie herunterschaffen. Wir haben hier einen Müllschlucker. Alles hinein und unten wird abgeholt. Kostet ja nichts. Und immer warmes Wasser. Zuhause haben Sie sicher einen Gasboiler? Ja, wusste ich doch. Die Dinger können schnell kaputtgehen und wir haben diese Sorgen eben nicht. Treppen sind auch passé. Aufzug. Haben Sie gerade schon gesehen. Geht auch schnell. Und der Einkauf… na ja, manchmal kommen ein paar Kinder vorbei, die den alten Leutchen gerne helfen. Geben Sie ihnen einfach ein paar Mark mit und die holen Ihnen alles aus der Kaufhalle, was sie kaufen dürfen. Wenn es aber Bier oder Schnaps sein soll… na ja, das bekommen wir schon hin. Wir können Ihnen da helfen und was vermitteln. Die Verkäuferinnen drüben in der Kaufhalle sind nette Mädels. Helfen auch mal. Ein paar Mark mal oder ein Geschenk zu Weihnachten und schon haben sie auch nächstes Jahr noch Freude daran und Freunde für gewisse Fälle."
Günzel hört kaum zu. Was soll er hier? Nie hatte er so einen Blick, muss da auch nicht sitzen und den ganzen Tag auf die Sächsische Schweiz in der Ferne sehen. Der Fernsehturm… wenn man sich ein wenig herüberlehnt, sieht man den auch. Schön. Wirklich.
"Wissen Sie, Herr Günzel, einige bauen sich sogar noch eine zusätzliche Antenne auf den Balkon. Verstehen Sie? Westfernsehen… beim richtigen Wetter hat man zwei Programme von drüben auf dem Schirm. Aber bitte nicht weitersagen, ja? Na ja, ist alles schön. Wenn ich nicht ein eigenes Haus hätte, wäre ich auch schon lange hierher gezogen. Also… schauen Sie sich noch um. Ich lasse Ihnen mal den Schlüssel hier und Sie kommen dann einfach wieder runter, bringen ihn mir. Tür nur zuziehen. Und wenn Sie die Wohnung haben wollen… eine Woche kann ich Ihnen gerade geben. Dann muss ich mich anderweitig entscheiden. Ein Glück überhaupt, dass gerade was frei ist. Verstarb vor drei Wochen. Ist nun leer. Sehen Sie ja."
Verstorben. Haben die nichts anderes für mich, als die Wohnung eines Verstorbenen? Günzel ist sauer, kann sich nicht an der Sicht freuen. Was soll er hier? In diesem Hochhaus stirbt man nur. Ja, ist eine blöde Angewohnheit von ihm, das zu verallgemeinern. Aber so kommt es ihm nun einmal vor. Kann er auch nichts machen.
Müde und traurig kommt er an diesem Tag nach Hause. Frau Krause sah ihm wohl an, dass sie die Wohnung nicht für ihn frei halten muss. Aber sicher hat sie so viele Anfragen, dass sie das nicht einmal im Traum stört.
Bei einem Bier überlegt Günzel. Das Haus ist kaputt. Na ja, das Dach hat er decken lassen. Als er noch jünger war, jagte ihn seine Mutter nach oben. Da musste er das alles allein… konnte es aber dabei eben auch ordentlich lernen. Hat eben alles sein Gutes und sein Schlechtes. Nun sind die Beine schwer und eine Leiter… die klettert er nicht mehr hoch. Braucht er auch nicht. Er lebte sein Leben. Und außer seinem kleinen Hund wird ihn sicher nichts mehr auf Trab bringen. Auch dieser mysteriöse Herr nicht. In ein paar Tagen wird der wieder vor der Tür stehen. Ob Fiedlers und er sich wirklich noch gemeinsam mit Herrn Tippmann unterhalten sollten?

Der Tag der Entscheidung ist da. Nicht einen Fuß setzte Günzel seit Rückkehr vom Hochhaus aus seiner Wohnung. Ist ihm nichts, anderen ins Gesicht zu schauen, wenn er doch weiß, dass sie ihm alle nur sein Leben zerstören wollen.
Fiffi spielt mit der Decke, als es klingelt. Ja, die Klingel hat er selbst gebaut. Ein Dreiklang. Gongt richtig gut. Ist auch nur eine Frage der Glocken und der Spulen. Hat er sich allein, selbst und nur für sich angeeignet.
"Guten Abend, Herr Günzel. Schön, dass ich Sie antreffe."
Der Mann geht wieder an ihm vorbei in die ‚gute Stube', ohne sich vorzustellen. Einen Moment lang will Günzel ihn hinausweisen, an die Ordnung erinnern, die doch alle Staaten in Deutschland immer so wichtig ansahen. Auch die Kommunisten. Mögen sie sein, wie sie sind. Ordnung versuchen sie zu halten. Wenn auch mit Mitteln, die er nicht versteht und nicht weiter betrachten will.
"Ha, schön hier. Aber so eine Wohnung… na, die Frau Krause erzählte mir, dass Sie sich in die Aussicht verliebt haben. Stimmt doch, oder, Herr Günzel?"
Was quatscht die Krause für einen Mist? Nein, sicher hat er das nicht. Zu hoch. Da wird es einem doch ganz schwummerig um den Bauch, wenn man von da oben runtergucken soll. Alles klein. Zwölfte Etage… nur Dächer vor einem und dann diese Ferne. Wenn es dazu noch ein Gewitter geben sollte… schlimm. Echt.
Der Mann sieht Günzel lange an. Nein, heute bietet er ihm nichts an. Der da hat ja auch seine Rolle mit der Planung nicht dabei. Wenn ja, würde er ihm einen frischen Kaffee drüber schütten. Selbst wenn das sicher nichts an den Tatsachen ändert, hätte er seinen kleinen Sieg. Tja, aber wenn nicht? Na ja. Er weiß schon. Man wird ihn jetzt…
"Sie wollen nicht? Haben Sie sich das gut überlegt?"
Die Stimme… diese Stimme…
Kalt und eisig, wie als wenn man über einen Felsen klettert und einem der eisige Wind entgegenweht. Oh, einmal hat er das erlebt. Damals im Riesengebirge. Unten im Tal blühten schon die Schneeglöckchen und die Märzenbecher. Und oben… meterhoher Schnee, Kälte. Am Liebsten wäre er damals einfach sitzen geblieben. Keine Kraft mehr. Doch irgendwie war da etwas in ihm… Überlebenswille?
Der Mann da, der kann einem den Überlebenswillen gleich nehmen. Kalt, finster. Einfach zum Fürchten.
"Ich sehe schon. Sie haben nichts begriffen. Wollen Sie sich so in Gefahr bringen?"
Gefahr? Droht der etwa offen? Das kann doch einfach nicht sein. Der darf ihm nicht drohen. Er ist doch… vom Staat.
"Wenn Sie Ihr Haus nicht aufgeben, kommt das Einkaufszentrum trotzdem her. Und dann lehnt Ihr kleines bisschen Hütte an einem großen Haus. Wollen Sie so etwas?"
Angst…
Fiffi kommt aus der Küche, streicht dem Besucher um die Beine. Der bückt sich vom Stuhl her, will den Hund greifen. Doch der merkt wohl, wessen Kind dieser Besucher ist, knurrt kurz und es hätte nicht viel gefehlt, dass Fiffi ihm in die allzu keck vorgestreckte Hand biss.
"Verdammter…"
So schnell war Günzel noch nie auf den Beinen. Mit einem Hieb streckt er den überraschten Mann nieder. Wollte der doch mit dem Fuß nach seinem Hund treten. Also wirklich!
"Entschuldigen Sie… ich weiß auch nicht… das arme Tier…"
Günzels Worte prallen an dem Mann ab. Der reckt sich noch auf dem Boden, wirft dem Hund einen vernichtenden Blick zu und rappelt sich langsam nach oben.
"Gut denn, Herr Günzel. Das hat sicher ein Nachspiel. Und glauben Sie nur nicht, dass wir spaßen. Wir sehen das alles als einen Angriff auf den Staat. Das war ja nicht anders zu erwarten… Kinder beim Klassenfeind und der Vater bei der SS. Na ja, Verbrecher… das ändert sich eben nie!"
Wütend stampft der Mann noch einmal auf, greift sich seine kleine Tasche, in der er vielleicht ein paar Vertragsentwürfe hatte, dreht sich noch einmal zu dem weiter knurrenden Hund um, reibt sich Po und die Seite und geht zur Tür, die er einfach aufstößt, dagegenrempelt, dass gleich ein Knarren zu hören ist und sie einfach beim Gehen offen stehen lässt.
Verdutzt sitzt Günzel wieder auf seinem Stuhl. Was denn nun? Nachspiel. Wenn der wirklich… dann hat er sicher wirklich nichts zu lachen. Verdammt. Noch nie legte er sich mit jemandem an. Und Freunde hat er hier nicht.
Fiffi streicht um seine Beine.
Ja, Fiffi… das ist sein Freund. Ein guter Hund. Und der Kerl wollte ihn schlagen. So ein Wicht!
Unzufrieden mit sich und der Welt steht er auf, schlurft durch die Wohnung. Eigentlich bräuchte er jetzt einen Schnaps. Aber er verzichtet darauf, schnappt sich seinen Schlüssel und geht zu Fiedlers. Nein, das sind wirklich nicht seine neuen Freunde. Aber in der Not… mit dem Teufel legt er sich nicht an.

Herr Fiedler, in seiner ganzen Fülle in einen Gartenstuhl gequetscht, sitzt da, prostet Günzel mit der dritten oder vierten Bierflasche des Abends zu.
"Dem haben Sie's aber gegeben. Wenn der zu mir kommen würde, ich wüsste auch nicht, was ich täte… Einem das Haus unter dem Hintern wegziehen und dann auch noch von Recht und Ordnung, Fortschritt und solchem Pfeffer reden… na ja. Kommunisten!"
Der Mann beißt sich auf die Zunge, als seine Frau ihn bitterböse und fast erschrocken ansieht.
"Na, was Recht ist, das muss doch auch Recht bleiben, oder? Und uns was wegnehmen… aber richtig war das allemal."
Dann unterhalten sie sich über das Hochhaus. Tippmann… der hat nur Angst. Wer weiß, was der für Erfahrungen machen musste. Aber sie lassen sich das nicht gefallen.

Irgendwann hören alle gemeinsam im Hof des Altwarenhandels ein helles Jaulen. Keiner gibt etwas drauf. Wenn Hunde und Katzen aneinandergeraten, dann kann es schon einmal…
Als Günzel jedoch später nach Hause kommt, wundert er sich. Fiffi kommt nicht an die Tür. Wo ist der kleine dumme Kerl? Der hat doch immer Hunger, und wenn Herrchen zurückkommt, bekommt er meist etwas. Warum bleibt er heute weg?
Ruhe. Nichts. Nur eine Straßenbahn quietscht um die Ecke. In der Nacht fahren die nur alle Stunden. Reicht auch. Nur eben, wenn man eine verpasst, hat man ganz schlechte Karten. Dauert dann eben wieder eine Stunde. Aber da ist auch noch was anderes. Was nur? Als wenn sich jemand laut unterhalten würde.
Günzel vergisst Fiffi, geht noch einmal auf die Straße. Absolute Stille. Doch, da hinten. Das kommt sicher von der Zwinglistraße. Oder noch weiter weg? Kann sein. So gut sind seine Ohren nun auch nicht mehr. Einen von der Reichsbahn kennt er, der kann beim Hinhören genau sagen, wie viele Meter das Geräusch entfernt ist. Muss aber ein Trick dabei sein. Niemand kann das… der behauptet es nicht nur, er macht es auch immer gern vor.
"Fiffi?!"
Er ruft eine Weile. Jetzt würde er gern eine kleine Runde drehen. Mit Hund natürlich. Das wäre fein. Gassi gehen. Die anderen Hundebesitzer der Umgebung machen das immer. Und die Hundehaufen sprechen dabei eine deutliche Sprache. Niemand schert sich um den Dreck. Er eigentlich auch nicht. Aber Fiffi schickt er doch immer an die drei gleichen Stellen. Da ist Laub, sind auch ein paar Äste und niemand kann gleich hineintreten. Kinder spielen weit und breit nicht an den Stellen. Keine Gefahr also.
Fiffi kommt nicht. Nun, dummer Hund, dann gehe ich eben allein, denkt Günzel. Er greift sich die Jacke. Nicht einmal frostig wurde er. Dabei muss es kalt sein. Er sieht seinen Atem. Komisch. Ist das so, dass man im Alter nichts mehr so richtig mitbekommt? Kann sein. Ist ihm auch egal. Er muss sich nach niemandem richten und so muss sich auch niemand nach ihm…
Allein war er lange nicht unterwegs in Gruna. Die Gaslaternen werfen ein mehr als spärliches Licht. Einige sind aus, andere sprangen nicht an und dann kann man bei den schlechten Fußwegen wirklich ganz schön von Platte zu Stein und Pfütze stolpern, hinfallen und so weiter… na ja, ist auch egal. Wenn er fällt, trifft es keinen, der noch wirklich arbeiten muss. Und so alt…
Auf der Beilstraße erwischt er die Schreihälse. Eigentlich nur einen Einzigen. Das ist… er kennt sich mit den Namen nicht aus. Aber der muss der Sohn von den Hausbesitzern da sein. Waren unbedeutende Leute. Und das Haus… na, die ganze Umgebung redet von diesem Umbau. Wie die sich das…? Geht ihn nichts an.
Was schreit der da? Wo seine Mieter sind? Wollte der gar, dass die in dem ganzen Schutt drinbleiben? Wirklich, ein netter Mensch… muss man schon sagen. Aber gut. Er ist eben… er ist alt und versteht so einiges nicht mehr. Früher wurden die Häuser nicht komplett umgebaut oder saniert… heißt dieses neumodische Wort so? Man machte mal dieses oder jenes und irgendwann war man eben rum, hatte alles geschafft. Sah nicht immer wie aus einem Guss aus, aber es stimmte eben und man konnte alle Arbeiten an seinen Geldbeutel anpassen. Nicht schlecht. Heute? Alles auf einmal. Das birgt doch die Probleme… so viele auf einen Streich.
Ohne sich wirklich blicken zu lassen, geht er die Beilstraße entlang, biegt an der Thomaskirche wieder auf die Bodenbacher ein. Der Mann da… wie hießen die? Bauer… Gärtner. Ja, Gärtner hießen die… die kamen wohl irgendwo her. Heute machen die jungen Leute laufend Urlaub. Seine Mutter konnte sich das nicht leisten. Nie kam sie weiter weg, als zu ihrer Schwester drüben in Freiberg. War auch so eine lange Fahrt. Aber ansonsten…
Urlaub. Die kamen an und nun stehen sie… na, wer weiß. Wenn es was zu erzählen gibt, erfährt er das sicher von Fiedlers. Mit denen will er sich morgen noch einmal treffen. Alle wollen sie nachdenken. Müssen sie auch. Wenn er schon allein ist und sie auch angst haben… ja, das wird der richtige Weg sein.

Nach einigem Stolpern kommt er zuhause an. Der Hund meldet sich wieder nicht. Dabei kommt jetzt auch noch der Mond zum Vorschein. Hat er den nur nicht gesehen? Nein, die Wolken verdeckten ihn. Gut, da kann er lange suchen. Aber Fiffi bellt gern, wenn der leuchtet. Warum denn nun heute nicht? Steckt der im Keller und kann das Licht gar nicht sehen? Was weiß er. Wenn der Hund eine Freundin hat, dann soll er sich ruhig die Zeit vertreiben. Morgen kommt er wieder und hat sicher mehr Hunger und Appetit, als jemals zuvor. Das war immer so. Meint Günzel zumindest zu wissen.
"Dummer Hund. Wo Du auch bist… schlaf gut!"

Wilde Träume. Die hat man nicht als alter Mann. Aber er denkt nicht an Frauen oder diese vielen Techtelmechtel, die er hin und wieder mal hatte. Wozu auch? Waren keine so wichtigen Beziehungen. Nun sind sie alle zu Ende. Die Frau fort, die Kinder fort. Die Eltern fort. Der Hund fort.
Hund…
Noch einmal schreckt Günzel hoch, ruft nach seinem Fiffi. Ohne Erfolg. Aber er denkt sich nicht viel dabei.
Im zweiten Teil der recht kurzen Nacht beschleichen ihn mehr Träume in Richtung Bau. Krach. Alles sieht er abgerissen. Schlimmer noch, als die Bilder vom Krieg, die er tief in seinem Kopf hat. Verdammte Geschichte aber auch. So viele Bomben. Und dann soviel kaputt. Doch er sieht große Baumaschinen, die alles einreißen. Riesige Häuser. Die ganze Zwinglistraße geht unter. Die anderen Häuser, gar die neuen vorn an der Stübelallee. Und die Apotheke mit der Treppe hinauf… alles kaputt, alles zusammengeschoben. Ist nichts mehr da. Verrückt. Was man nicht manchmal für einen Mist träumt!
Warum liegt da sein alter Koffer im Bauschutt? Man räumt doch die Häuser aus, ehe man sie zusammenschiebt, oder? Ja, so würde er es auf jeden Fall machen. Aber in diesem Traum… nein, das ist nichts für ihn. Schweißgebadet wacht er auf, wälzt sich den Rest der Nacht nur noch hin und her. Verdammt aber auch. Was muss er sich mit allen Leuten anlegen? Kann er denn wirklich verhindern, was die wollen?

Es ist vielleicht sieben Uhr. Der Dreiklang schlägt immer wieder an. Mühsam schleppt sich der völlig übermüdete Günzel die Treppe vom Schlafzimmer hinunter zur Tür.
"Was ist denn so schlimm, das ich mitten in der Nacht…?"
Frau Bahlhorn steht vor der Tür.
"Herr Günzel… sin Se stork? Gonz stork müss'n Se jetze sei, ja?!"
Der sieht die Frau an, als wenn sie von der Stelle weg verrückt geworden wäre. Sie schüttelt aber den Kopf und langsam wird es ihm angst und bange. So richtig weiß er nicht, warum. Aber da ist dieses dumme Gefühl…
"Herr Günzel… wir worn nih immer eener Meenung und isch habbe sicher ooch bei manch'n Ding'n überreagiert. Obber…"
Die macht es jetzt wirklich spannend. Günzel bittet sie herein. Sie sieht sich um, geht staksend vor ihm her und hat natürlich gleich alle Augen an seinem Inventar kleben. Ja, die Weiber… so kennt er sie. Darum hat er sich auch nicht noch einmal mit einer eingelassen. War sicher der bessere Weg.
Endlich sitzt die Frau, und Günzel schielt zur Küche. Ein Kaffee würde gut tun. Außerdem muss Fiffi endlich was zu futtern bekommen. Der wird hungrig sein. Na, wer sich auch die ganze Nacht…
"Fiffi… hallo Fiffi!"
Frau Bahlhorn schaut Günzel komisch an. Der bemerkt es nicht.
"Trinken Sie einen Kaffee mit? Ich habe aber nur Kaffeemix."
Die Frau, die immer alles zuerst zu wissen scheint und mit ihrer Mangel drüben an der Zwinglistraße damit auch das richtige Publikum hat, nickt langsam. Na ja. Das Zeug wurde aus allen Resten gemacht, die die DDR vom Kaffeemarkt kaufen konnte. Aber es schmeckt zumindest ein wenig nach Kaffee. Nur der Duft… riecht eher nach Erbsensuppe. Gut. Trinken kann man es. Günzel wird sich nichts anderes, Teureres leisten wollen.
"Jo, Herr Günzel, des is so eene Sache…"
Sie beobachtet, dass der alte Mann immer noch jeden Stuhl anschaut, auf das Sofa klopft, wieder nach dem Hund ruft. Nichts. Er tut ihr leid. Sie weiß, was geschah und muss es ihm jetzt endlich sagen. Hoffentlich bricht ihm das nicht das Herz!
"Herr Günzel… Ihr Hund…"
Der schaut auf, sucht noch einmal, findet ihn nicht.
"Ihr Hund is doot, Herr Günzel!"
Der Notarzt versucht alles. Endlich ist der alte Mann wieder bei sich und sieht gleich sein Haus um ihn herum verschwinden.
"Herr Günzel, wir bringen Sie ins Krankenhaus. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir helfen Ihnen. Keine Sorge. Das wird schon wieder!"
Schemenhaft erkennt er die Bahlhorn im Hintergrund, will ihr etwas sagen. Sie kommt nicht zu ihm, steht nur mit einem Mann zusammen, den er nicht erkennen kann. Zu dunkel. Was machen diese ganzen Leute in seinem Haus? Das ist nicht gut. Die haben da nichts zu suchen! Aber er kann nichts sagen. Warum nur? Haben die ihm etwas gegeben, damit er ruhig ist, sich nicht äußert oder so etwas? Das hasst er an diesem Staat. Man kann nie sagen, was sie mit einem machen. Gefährlich!

Zwei Wochen ist er wie von der Außenwelt abgeschnitten. Der Arzt sagt immer wieder, er solle sich keine Sorgen machen und sicher kämen die lieben Verwandten, wenn es ihm besser ginge. Na, wer denn? Die Kinder sind… ja, das ist klar. Und die Eltern sind… auch klar. Aber die vielen Nachbarn. In seinem Alter hat man sicher eine Menge guter Freunde. Die kommen schon. Ob man jemanden informieren sollte? Fiedlers vielleicht?
Niemals vor ein paar Wochen wäre er auf gerade die gekommen. Die Bahlhorn fällt ihm noch ein. Aber zu der hat er eine ganz eigene Meinung und die wird sich auch nicht durch ihre sicher nur gespielte Freundlichkeit wirklich ändern. Die Frau ist… eben eine Geschäftsfrau, wie es damals seine Mutter sein wollte, aber nicht durfte, wie es sein Vater war, aber eben im Krieg sein Leben lassen musste. Und er? Er ist nur…
Gesund. Ja, der Doktor schrieb ihn gesund. Bei der Morgenvisite meinte er, dass man ihn nicht noch länger da liegen lassen dürfe. Immerhin sei er ein Mann, vieles gewohnt. Nun könne er heim und alles regeln, was es eben zu regeln gebe.

Niemand holt Günzel ab. Er sitzt erst am Empfang der Station. Dann fragt die Schwester, ob sie jemanden anrufen könne. Wen denn? Nein, er sollte… schade eigentlich. Der Doktor meinte doch, dass man mit so einem Fahrdienst mitfahren könne. Aber sicher war da kein Platz mehr frei. Dass es manchmal einen halben Tag dauert, ehe jemand wirklich auf diese Art heimkommt, das weiß er nicht. Woher denn? Nein, er will jetzt, sofort…
"Adresse, Opa?"
Junger Schnösel. Soll mal lieber arbeiten. Ja, Autofahren… ist das alles, was der kann? Hofft er doch eher nicht. Aber möglich ist alles… gerade heute. Verrückte Zeiten.
Er nennt die Adresse.
"Nee, Opa. Die Frau am Tresen sagte was Anderes. Mann, warum bekomme ich immer nur die Idioten!"
Was anderes? Er weiß doch, wo er wohnt, oder? Der kann ihn nicht einfach woandershin…
"Nu reg Dich ma ab, Opa, ja? Verstehe ich doch. Vielleicht die Alte gestorben oder umgekippt beim Einkofen? Na, keen Problem. Ich weeß doch, wo ich fragen muss!"
Und schon geht es los. Ist nicht weit. Von der Fetscherstraße, also der Krankenhausverwaltung, rüber nach Gruna… der Große Garten sieht schön aus. Auch in diesem Spätherbst. Die Blätter fallen alle runter. Ein Baum hat irgendwie zu jeder Jahreszeit seinen Reiz. Sollen mal nicht so tun, die ganzen Leute, als wenn man die nur richtig mögen kann, wenn sie grün sind. Grüne Bäume… na ja… die kann man immer sehen… aber eben die ohne Blätter?
Bodenbacher Straße. Kaum Verkehr. Der Fahrer kennt sich aus. Noch ein paar Meter, dann rechts den kleinen Schlenker über die Zwinglistraße und er ist…
Halt…
Wieso fährt der jetzt Links?
"Junger Mann, das ist falsch. Da drüben. Sehen Sie? Das Haus da, das ist meines. Bitte… nicht schlimm. Drehen Sie einfach um und…"
Nichts da. Der Mann fährt. Dabei tippt er sich kurz an den Kopf. Was er denkt, sieht Günzel ganz klar vor sich. Was soll das aber?

...


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