„Expedito“ von Stefan Jahnke



Midgards Blut
Fantasy-Roman
Oktober 2013
Paperback
296 Seiten
Herstellung und Verlag: Shaker Media GmbH, Aachen
ISBN 978-3-95631-080-5



Spätsommer 2011. Ein Tornado verfehlt knapp die Stadt Nossen nahe Dresden. Trotzdem wird das Mittelalterspektakel ‚Expedito’ zwischen den Ruinen im Klosterpark Altzella verwüstet. Drei Menschen verschwinden gar dabei spurlos und die Behörden kümmern sich mehr um Gesetze, als um die Vermissten und deren Angehörige.


Lederstecher Herbert, Kräuterfrau Jana und Vorleser Sven erwachen wenig später mitten im Wald. Mühsam finden sie wieder zueinander. Es vergehen viel Zeit und einige haarsträubende Erlebnisse mit Dieben, Händlern und berittenen Waffenmännern aus Meißen, ehe sie begreifen, was schief ging. Denn plötzlich stecken sie mitten im 11. Jahnhundert. Jana muss fürchten, als Hexe verbrannt und die Männer als Aufwiegler weggesperrt zu werden. Bischof Bruno will seine Macht mehren und Markgraf Wilhelm unterstützt ihn dabei nach Kräften.


Zum Glück rettet Hermann Berka, ein Gesandter des Herzogs Vratislav, die Reisenden und nimmt sie mit nach Prag. Wegen ihres bald guten Rufes dürfen sie an einer Expedito ins Heilige Land teilnehmen, obwohl die Zeit der Kreuzzüge noch nicht begann.

Blitz und Donner folgen ihnen auf all ihren Wegen. Darum bedroht sie bald schon die Angst der Menschen vor mächtigen Fabelwesen, genannt ‚die Gewitt’, auf dem verzweifelt gesuchten Weg zurück nach Hause.



Leseprobe

Epilog (Auszug)

...

"Gott zum Gruße, edle Herren und Weibsvolk! Willkommen zum Gaudi der Expedito in die Vergangenheit und vergnüget Euch so, wie Ihr es schon immer einmal wolltet. Zur Freude für Euch, aber vor allem für den Hochwohlgeborenen Herren der nahen Burg, der uns heute noch mit seiner Anwesenheit beglücken wird, begrüße ich Euch auf das Herzlichste und hoffe, der Wegezoll hierher stimmte Euch nicht traurig und zu maßvoll. Die Fässer sind gut gefüllt, die Feuer heiß, die Spieße fettig und das Fleisch saftig. Der Herr befahl, zu Eurer Ehre noch ein Schwein mehr zu braten und einen Ochsen zu schlachten. Die Bäcker machten gute Brezen und zur allgemeinen Unterhaltung schlagen dann noch die in der letzten Schlacht einvernommenen Kämpfer des Feindes aufeinander ein, bis dass einer von ihnen blutend und kalt werdend am Boden liege. Vergnügt Euch und genießet, was Euch zur Freude geboten werden kann!“
Herbert sieht nicht gut aus. Lange war er krank und rang mit dem Tode. Nun jedoch fühlte er sich so, noch ein letztes Mal das Fest zu eröffnen. Wie lange brauchte er doch, um all dies vorzubereiten. Die Genehmigungen kosteten ihn die letzten eh’ schon weißen Haare und manche Nacht lag er wach, grübelte, ob er etwas Wichtiges vergaß. Er schaut in die Runde und sieht sich bestätigt. So viele Besucher sprach ihm niemand bisher zu. Er kann wirklich zufrieden sein. Er lacht einen Moment, dreht sich um und schreitet im vollen Ornat zurück zu seinem Stand. Nun gut, der ist sicher für einen Ausrufer nicht standesgemäß. Da er jedoch ein alter Mann des Leders ist, die Schusterwerkstatt einst vom Vater übernahm, der von seinem und so weiter, machte er aus der gar nicht existierenden Not eine Tugend, baute sich diese Stecherhütte auf und fertigt nun schon im fünften Jahr Bilder auf Leder. Erlesene Werke entstehen, wie man ihm bestätigte. Er verwendet viel Zeit und vor allem seine recht ruhige Hand in all dies und ist anerkannt… Ja, er gibt es zu. Damals, in jener Zeit, in der er Fest und Stand anzusiedeln versucht, gab es solche Kunst gar nicht. Man fertigte grober. Gerade wenn es um Leder ging. Das sollte halten. Mehr nicht. Die Feinheiten kamen später, als die Herren nicht mehr auf Burgen, sondern in Schlössern lebten. Na, egal. Noch nie sprach ihn jemand gerade darauf an. Wie denn? Organisieren sie das alles… oder eher er? Er lacht kurz auf… na ja, er darf das auch nicht zu eng sehen. Sie achten ihn. Das allein zählt.
Unterwegs zum Stand nimmt er sich noch ein Bier mit. Ein ganz normales, ohne alle Zusätze. So mag er es am Liebsten.
Sven schaut sich um.
„Wieder hauptsächlich Gothic… kommen vielleicht von Leipzig herüber. Oh Mann, ich kann diese Typen nicht mehr sehen! Alles nur schwarz, schwarz, schwarz… wie der Himmel. Mann, wenn das mal keinen Regen gibt!“
Jana grient und ordnet die Kräuter, um im Falle des Falles alles schnell in die vor Regen schützenden Transportboxen zu packen.
„Mecker doch nicht immer nur herum, ja? Wer wollte denn unbedingt nach Altzella? Ich nicht… hätte auch die Woche anderes zu tun gehabt, als den Stand aufzubauen. Aber… wenn die da was kaufen, ist es doch in Ordnung, oder?“
Sie hat ja recht. Sven zuckt mit den Schultern. Er sollte froh sein, sie zu haben. Dann greift er sein dickes Geschichtsbuch, aus dem er immer wieder vorliest und auf das er stolz ist. Sein Vater schenkte es ihm. Teuer war es auch noch. Ein Reprint, wie man es heute benennt, von alten Klosterbüchern, auch hier aus Altenzella und anderswo. Man kann es nicht glauben. Irgendwo im Osten, weit entfernt von hier, fand man das Original. Wer es wann dahin schleppte, vielleicht gar für diesen offensichtlichen Diebstahl sterben musste, ist ungewiss. Aber es steht vieles drin und er kann die alte Schrift endlich lesen.
„Hier… da, lies… Wiesen und Wälder waren einst an dieser Stelle. Wenn ich jetzt ein wenig grabe, finde ich sicher noch Reste der alten Wurzeln, oder?“
Jana schaut ihn kopfschüttelnd an.
„Komm, lies lieber etwas vor. Dann bleiben die Leute stehen, hören zu und schauen sich unsere Kräuter und Salben an. Das ist besser. Habe echt keine Lust, den Kram wieder vollständig einzupacken. Kannst ja froh sein, dass Herbert uns die Standgebühr erlassen hat. Mann, die könnten wir jetzt gar nicht stemmen… und da redest Du gestern noch von Kindern und Familie… Na, ich glaube, Du solltest mal wieder… richtig arbeiten!“
Er schnieft und denkt, sicher, würde er gern. Er schrieb ja bereits Hunderte Bewerbungen. Nur… wenn man ihn nirgends will…
„Hey, nicht träumen, ja?“
Herbert… der schimpft schon wieder und benimmt sich wie ein Sklaventreiber. Toll! Denkt der vielleicht, weil er sie bevorzugt, kann er sie nun herumkommandieren? Trotzdem schlägt Sven eine andere Seite auf und beginnt, laut und für einige gar einen Schrecken über den Rücken jagend, zu lesen. Zufrieden nickend dreht sich Herbert um und setzt seinen kurzen Weg über den Markt zwischen den alten Mauern der Klosterruine Altzella bei Nossen fort. Diese jungen Leute… muss man manchmal zu ihrem Glück zwingen. Er ist sich sicher, dass er dazu das wirklich wichtige Zeug hat…
Die Wikinger sammeln sich vor der Scheune und heben schon die Schwerter, veranstalten einen mörderischen Krach. Dazu sind die beiden Ansager, die neben Herbert dieses Fest und alle Veranstaltungen kommentieren, endlich aufgetaucht und übernehmen den Part sofort. Herbert schimpfte noch mit ihnen, doch sie hatten genug Ärger. Die Elbe führt seit Tagen Hochwasser und ihr Haus in Königstein an eben diesem Fluss inmitten der Sächsischen Schweiz steht nun schon zum achten Male bis über das Parterre im Wasser… zumindest, seit sie es bewohnen. Trotzdem wollten sie dieses Fest unbedingt erleben und moderieren, rechneten aber nicht mit der vielen Zeit, die allein eine Umfahrung des Überschwemmungsgebietes und die damit verbundenen Staus auf den wenigen noch offenen Straßen dauert, um genau auf die andere Seite von Dresden und dazu noch ein gutes Stück weiter die Autobahn hinauf nach Nossen zu gelangen. So landeten sie gut eine ganze Stunde nach dem Festbeginn, wollten aber schon eine vorher da sein. Eben, um die Moderation und die Veranstaltungen, aber auch die einzelnen Abläufe abzusprechen, mit den verschiedenen Akteuren zu plaudern und sich so richtig vorzubereiten. Nun zeigen sie jedoch, dass sie sehr wohl in der Lage sind, zu improvisieren.
Und Gerd, der Kleine, Dicke der Beiden, steht schon wohl gelaunt vor den Leuten inmitten des baldigen Schlachtfeldes, erzählt von den Kriegern der verschiedenen Zeiten, den Einfällen der Stämme in fremde und meist nicht einmal wirklich benachbarte Gebiete, der damit verbundenen Grausamkeit nicht nur bedingt durch das Schlachten, sondern auch die einzelnen Herrscher, die zu gern eigenes Volk und Getreue vorschickten, sie gar für das eigene Leben tauschten und sich so einen mehr als nur fragwürdigen Ruf erschufen. Die Besucher, die ein recht hohes Eintrittsgeld bezahlten und erst etwas sauer auf die noch fehlende Unterhaltung reagierten, hängen nun an seinen Lippen und er versucht, viel Witz in seine Rede einzubauen, was ihm, wem denn sonst, auch wirklich gut gelingt. Bald schon lacht man. Er schaut in die Runde, fordert Ruhe und man solle ihn ernst nehmen, bringt jedoch schon den nächsten Brüller. Als Herbert Gerd einst entdeckte, dachte er, dem würden sicher gleich die Witze ausgehen. Er täuschte sich… und… natürlich… so hat er nun wegen ihm und seinem Sozius gar keine Sorge.
Der Festplatz wird immer voller. Am Einlass, wo heute noch nicht ein Ankommender versuchte, die Preise herunterzudiskutieren, kommt schon Mangel an Eintrittskarten auf. Der Lederstecher rafft sich auf, verlässt den Schlachtplatz und sucht weitere Packen der Karten heraus. Er beglückwünscht sich schon ein weiteres Mal, dass er damals beim letzten Druck auf eine Personalisierung verzichtete und nur allgemein ein Mittelalterspektakel aufdrucken ließ… ohne Ort.
Dichte Wolken ziehen am Himmel auf. Besucher, schon auf halbem Wege nach Nossen, überlegen es sich anders, versuchen, dem Wetterbericht im Radio zu entlocken, womit sie heute noch zu rechnen haben. Langsam setzt auch noch Wind ein, der die wenigen warmen Luftpartikel regelrecht davon treibt.

„Mann, wo soll man denn hier parken? Das ist ja eine Zumutung!“
Frank sucht den Straßenrand ab und tobt hinter dem Lenkrad seines alten Ford Sierra herum, während Veronika versucht, ihn zu beruhigen. Nein, denkt sie, dieser Besuch war keine gute Idee. Dabei dachte sie, ihren Mann endlich wieder einmal auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Er verlor vor einem Jahr die Arbeit und weiß seither nicht so recht, irgendetwas mit sich anzufangen.
„Bleib doch ruhig… dort, dort ist das Schloss. Da stellen wir uns auf den Marktplatz und fragen einfach, wo dieses Kloster liegt.“
Ja, wo… Frank schaut gar nicht begeistert.
„Dann bleibst Du aber im Auto sitzen und ich gehe fragen. Nicht, dass die uns noch ein Ticket an die Scheibe pappen!“
Weiter drüben am anderen Ende des Marktes läuft eine junge Frau in Uniform herum, schaut durch jede Windschutzscheibe und schrieb eben schon einige Fahrzeuge auf. Und das zum Sonntag! Mann, nirgends kann man mehr einfach so parken… überall gibt es neue Regeln. Frank schimpft noch einmal auf Gott und die Welt, ehe er aussteigt, wobei Veronika ihm aufmunternd zunickt, und zum Zugang der Burg läuft. Eben bekommt er einige Tropfen ab.
„Toll! Und nun? Mittelalter… blöde Idee!“
Er sagt es leise zu sich selbst. Nein, er will seine Frau nicht ärgern, erst recht nicht verärgern, denn sie meint es doch gut, wollte ihm eben nur… einen schönen Tag bereiten. Ja, er erkennt es an. Ja, er findet es auch gut. Hmm… Trotzdem. Richtiges, ordentliches, schönes Wetter… haben sie schon eine Ewigkeit nicht mehr.
„Wo geht’s n hier zum Kloster? Iss gleich um die Ecke, oder?“
Die Frau hinter dem Kassenfenster der Burganlage schaut erst verlegen, dann sieht sie sich um.
„Entschuldigung. Ich bin nicht von hier. Herta… hallo, HERTA!“
Eine ältere Dame, ja, so kann man sie bezeichnen, dreht sich um und schaut zur Kassiererin, dann zum Kunden vor dem Schalter.
„Zum Kloster? Da sind Sie hier völlig falsch… also, Sie können unten am Fluss entlang gehen. Aber das dauert eine Weile. Na ja, fahren Sie lieber… ach, da bekommen Sie ja nicht einmal das Auto los. Na ja, kann ich auch nicht ändern. Aber das Kloster ist nicht hier. Schauen Sie am Besten mal dort auf den Plan. Da sehen Sie, wie Sie fahren müssen. Ist bisschen… na ja, finden Sie schon!
Frank stapft zurück. Die Wut steht ihm noch mehr ins Gesicht geschrieben. Inzwischen fallen weitere, schon größere Tropfen. Man kann noch nicht von wirklichem Regen sprechen, aber bis dahin ist es sicher nicht mehr weit.
„Was ist denn los?“
Veronika will schlichten. Dann zuckt sie zusammen.
Der Blitz kam unvermittelt. Da die Wolken immer dunkler wurden, hob er sich gut über den Häusern am Markt ab.
„Oioioi! Na, fahren wir lieber nach Hause?“
Frank schüttelt den Kopf.
„Nee, Du. Jetzt sind wir hier, jetzt gehen wir da auch hin!“
Sie schnappt sich ihre Handtasche und will aussteigen, aber er setzt sich auf den Fahrersitz und startet den Motor.
„Ähm… hä?“
Er grinst sie an.
„Ist noch ein Stück. Aus dem Ort raus… fast. Warte nur, ich glaube, ich habe die Strecke jetzt im Kopf!“
Mit diesen Worten fährt er los und schaltet fluchend den Scheibenwischer ein, denn eben geht ein gewaltiger Regen nieder. Toll, denkt er, nun brauchen sie wirklich nicht mehr auszusteigen.

Zwischen den Mauern der Klosterruine setzt gerade ein Rennen ein. Die, die es können, quetschen sich unter ein kleines Vordach, der Rest versucht, die Autos zu erreichen. Außer dem verschlossenen Konvent steht hier nicht mehr viel und unter den Bäumen… bleibt man nicht lange trocken, wenn der Regen dermaßen herunterkommt. Nur der stabil aus Holz erbaute Getränkestand von Kuno, dem immer lustigen Wirt aus Sohland, der mehr Tage im Jahr irgendwo in Deutschland und dem deutschsprachigen Umland unterwegs ist, als zuhause, trotzt noch dem Wetter und er steht dort, schenkt immer noch Bier und Met aus, scherzt mit denen, die sich zu ihm retteten, und lässt sie nun, da der Regen zu peitschen beginnt, gar in seinen Stand herein. Sonst, sagt er gleich und immer wieder, wäre so etwas schon wegen der vielen Auflagen der Hygiene und so weiter, gar nicht möglich. Die Besucher danken ihm und er ist guter Dinge.
„Das hält nicht lange an. Geht eigentlich immer schnell vorbei. Ich hatte erst vor ein paar Wochen so ein verdammtes Wetter in Kärnten… die Wolken wollten gar nicht an den Bergen vorbei. Und dann hatten sie sich abgeregnet und flussabwärts stand alles im Wasser… na ja…“
Etwas besorgt schaut er auf den nahen Fluss, der sich bei solch einem Wetter vielleicht zum reißenden Strom verwandeln könnte? Er schiebt den Gedanken beiseite und widmet sich dem Zapfhahn.
„Okay, Leute… alle Getränke zum halben Preis!“
Jana ist sauer.
„Mach doch mal ein bisschen mit, ja?“
Sven stellte sich einen Moment an den hölzernen Tragebalken ihres kleinen Standes und schaute entgeistert in den Regen hinaus.
„Ja, sicher… hätten wir doch nur diese teurere Plane genommen… na ja, nicht mehr zu ändern. Mist!“
Seine Frau klopft ihm auf die Schulter.
„Dafür müssen wir mehr einnehmen. Das weißt Du doch… komm, die Deckel drauf und dann ab zum Auto. Ich glaube nicht, dass das hier und heute noch was wird!“
Er schluckt. Es wäre eine Chance… gewesen. Keine Gebühr, schon ein paar… wenige… Verkäufe und sie wären wieder im grünen Bereich. Zumal Jana auch noch perfekt schminken kann und die Kinder ganz begeistert sind, wenn sie aus ihnen für einen Nachmittag einen Drachen, einen Feuergott, eine Fee oder eine Zauberin macht. Die, denen sie heute schon das Gesicht verschönte, werden nun alle Farbe verlieren und vielleicht auch noch auf sie schimpfen, denn dummerweise hat ihre gerade verwendete Farbe die Eigenart, wasserlöslich zu sein, wenn es um den Untergrund Haut geht. An Kleidung, und über diese läuft sie ja, wenn sie vom Regen abgewaschen wird, bleibt sie leider haften… und das wird niemand wirklich nett und gut finden… davon geht sie aus. Natürlich schaut sie sich vorsichtshalber um, kann jedoch keine Kinder mehr entdecken.
„Sind schon alle weg. Ein Glück!“
Sie greift zwei der vier Kisten und schleppt sie zu ihrem kleinen Lieferwagen. Der, meint Sven, wäre auch noch weg, wenn sie nicht bald mal wieder ein paar nennenswerte Einnahmen hätten. Die Raten laufen noch ein knappes Jahr und die Bank hat sicher kein Einsehen. Schon bei der allerletzten Hypothek auf Svens ererbtes Haus taten sie so, als gönnten sie ihnen nur wegen ihres jungen Glücks einen Gefallen. Geht das alles so weiter, können sie bald mit einem einfachen Eselskarren über die Straßen ziehen und… draußen schlafen. Sie grinst nicht bei diesem Gedanken. Zu oft schon hatte sie genau so etwas vor Augen… und der heutige Tag, dieses kleine Fest mit den angeblich so sicheren über tausend Besuchern, beweist ihr wieder einmal… wie unendlich recht sie hat. Dabei will sie es gerade bei diesen Dingen… gar nicht haben.
Klapp… die Tür des Lieferwagens ist zu. Gut.
Die Kräuter dürften das Wenigste abbekommen haben. Sven brachte sein Buch in Sicherheit und… nur sie selbst sind noch in Gefahr. Es sei denn, sie setzen sich ins Auto. Nein, den Stand lässt man nie allein. Man hat für ihn und seine Sicherheit zu sorgen. Das mussten sie gleich zu Beginn ihres Mittelalterhandels lernen und hielten sich stets daran.
„Schau Dir bitte mal diese Wirbel an. Mann, das ist ja nicht zum Aushalten! Und das wird einfach nicht besser. Ich glaube…“
Lothar will sich von den Bildern gar nicht trennen und Uschi, die eben mit zwei dampfenden Kaffeetöpfen aus der Kantine zurückkehrt, hat wirklich Mühe, an einen der Monitore heranzukommen.
„Hmm… sieht nicht gut aus. Noch etwas dichter und in der Geschwindigkeit gleichbleibend und wir haben den größten Tornado der Region. Ich glaube, wir sollten mal wieder anrufen.“
Ihr Kollege greift nach dem Kaffee und schüttelt langsam den Kopf.
„Glauben die uns doch eh’ nicht, oder?“
Sie schaut ihn lange an und meint, „Ja, wenn es danach geht, gibt es nicht einmal einen Hurrican, wenn schon halb Deutschland von ihm verschlungen wurde. Mann, was ist das nur…? Na ja, was rege ich mich überhaupt auf? Hat eh’ keinen Sinn! So, was machen wir?“
Sein Blick streift sie abschätzend.
„Na, da hätte ich schon eine Idee…“
„Bist Du einmal ernst, Lothar? Also… wie wollen wir vorgehen? Dieser Sturm ist nicht ohne. Was gibt es dort eigentlich alles?“
Ohne weitere Hintergedanken schauen sie nun gemeinsam auf den Monitor und Lothar ruft einige Gebietsinformationen auf.
„Hmm… ein paar Häuser, nicht viele. Wenn er seine Bahn nicht verändert… na ja, dann geht er knapp an Nossen vorbei und dann drüben über die Autobahn. Eine Menge Felder und… oha… ein Windpark. Da stehen Windräder. Die… sollten in ihre Parkposition gehen. Ganz wichtig. Die haben nur noch eine gute halbe Stunde. Die müssen… nein, die fliegen sonst davon!“
Lothar greift zum Telefon, wählt eine der hinterlegten Nummern, versucht, die Situation zu schildern. Wie so oft erntet er natürlich erst einmal nur Unverständnis und Widerwillen.
„Ja, wissen Sie, es ist mir eigentlich egal, ob Sie mir nun zuhören und auch machen, was ich Ihnen empfehle… Meine Aufgabe ist es lediglich, Sie auf die möglichen Gefahren hinzuweisen und vor den Wetterunbilden zu warnen. Was Sie dann tun… na ja, Ihre Sache. Schönen Tag noch!“
Wütend knallt er den Hörer auf die Ladestation und schaut noch einmal über die Karten. Der Wirbel ist längst nicht mehr dunkelblau, sondern schon rot, tiefrot. So rot, dass er sich selbst mit seinen Erfahrungen nicht mehr in die weitere Umgebung des betroffenen Terrains wagen würde. Er ist richtig froh, in Leipzig zu sitzen und nicht… in Nossen. Dann fällt sein Blick auf das Plakat an der Wand ihm gegenüber. Er wird schreckensbleich.
„Verdammt, dieses Fest!“

Herbert hört den Handyton kaum. Der Sturm pfeift und er schaut immer besorgter auf seinen Stand. Gerade eben wagte er es sich, die alte Treppe an der Klostermauer hinaufzusteigen, und nun hat er einen ziemlich guten Überblick. Der Regen nahm ab. Man könnte also schon wieder die Reiter und Kämpfer aufeinanderhetzen, vielleicht auch den Feuerspucker antreiben, um die wenigen verbliebenen Gäste zu begeistern und andere, die noch auf der Flucht, jedoch noch nicht am Ausgang sind, zurückzuhalten. Schade, wirklich schade… einige sind dabei, denen wird er den Eintrittspreis zurückzahlen müssen. Kamen an, vier Mann gleich, Familie eben mit zwei Kindern, kauften ihre Karten, traten ein, sahen sich ein paar Stände an und wurden vom Regen unter das kleine Vordach gejagt. Dem Wetterbericht kann man nicht mehr trauen. Für heute war alles angesagt aber sicher kein Unwetter. Bewölkt… ist für ihn auf jeden Fall etwas anderes. Er kann die Angst in den Gesichtern einiger auf dem Platz unter ihm gut verstehen.
Blitze… hier gibt es keine Masten, keine Blitzableiter. Der nächste muss da hinten auf dem Einfamilienhaus sein… ein gutes Stück weg vom Klosterhof. Mist… wie eben immer… oder zumindest heute.
Da sieht er wieder so einen. Dünn, hell, gezackt, als würde… wie kommt er auf die Donnergötter? Ja, er lebt für seine Feste und den Stand, die Arbeit mit dem Leder, alte Sprache und vieles mehr, aber er würde sich nicht mit denen von damals völlig gleichmachen. Zu gefährlich. Da wird man zum Spinner, ohne es zu wollen. Das sah er eben erst an den Externsteinen… Lief doch einer herum mit einem in Alufolie eingepackten Hut und zwei daran befestigten Antennen. Hier… im Gewitter… oder wie man dieses Unwetter gerade nennen möchte… wäre so ein Typ der ideale Blitzableiter. Na ja, nicht wirklich ideal… nicht wiederverwertbar. Leider. Ein Einwegableiter mit direktem Friedhofsanschluss. Er grinst, reißt sich zusammen, hält seinen Bauch, ignoriert die Schmerzen und geht wieder hinunter.
„Los, die Feuerschlucker herzu… und dann geht es weiter. Hallo, Männer und Weibsvolk, herbei, herbei… die Wikinger stehen gleich bereit und werden nochmals auf sich einschlagen, Ihnen das Gefühl vermitteln, direkt dabei zu sein… mitten in jener Zeit, die uns allen so unheimlich fern…“
Rumms…
Es donnert dermaßen laut, dass es Herbert nicht nur die Sprache verschlägt, sondern er gleich ins Wanken gerät, sich festhalten muss, um nicht in eine der vielen Schlammpfützen zu stürzen. Na prima, denkt er noch und flucht nochmals um sich her. Was man sich nicht alles antut…! Er grinst und schaut um sich. Dann vergeht ihm das Lachen wieder.
Knapp neben dem Getränkestand raucht der Boden. Kuno kommt eben hinter seinem Tresen hervor, schaut sich ungläubig um.
„Ähm… welcher Trottel braucht denn einen alten Abfalleimer? Hallo, welcher Trottel… WELCHER TROTTEL…“
Herbert ist bei ihm, fasst ihn am Arm und zeigt auf den Boden neben dem Stand. Ungläubig und nicht so recht wissend, was der hiesige Chef des Festes von ihm will, schaut er genauer hin.
„Was?“
Ja, was… Herbert geht etwas in die Hocke, steht aber gleich wieder. Seine Bandscheiben lassen solche Verbiegungen nicht mehr wirklich zu. Was man nicht alles über sich ergehen lassen muss! Dann zeigt er nur im Stehen auf das, was ihm auffiel, „Da…!“
Kuno, gerade noch gut gelaunt, folgt dem Blick und…
„Nein, oder? Mann, das war doch nur ein… oh Mann, wenn da einer… Das gibt es doch nicht, oder?“
Er kniet sich hin, achtet gar nicht auf seine Tracht und spürt ebenso wenig, wie sich seine gute Bundhose voll Schlamm und Regenwasser saugt, will zugreifen, zuckt jedoch nach dem ersten Kontakt mir diesem kleinen Etwas zusammen und verzieht schmerzhaft sein Gesicht, flucht und springt auf, versucht, die zum Glück nur leicht verbrannten Finger irgendwie zu kühlen.
„Das ist doch… Mist!“
Herbert wollte ihn noch zurückhalten, hatte jedoch keine Chance, schaut ihn nun mitfühlend an.
„Hmm… wenn da wirklich einer gestanden hätte… na ja, zum Glück war der Eimer da. Ein guter Blitzableiter, sage ich mal.“
Ja, nur eben… ziemlich heiß. Kuno flucht.
„Nur der Henkel scheint noch da zu sein. Verrückt!“
Der Wirt zieht ein Leinentuch hervor und greift mit diesem zu, hebt den jetzt im Regen dampfenden Henkel vom Boden auf und schaut ihn sich ungläubig an.
„Das war ’ne Wucht!“
Und mit einem Blick auf Herbert meint er noch, „Sollten wir nicht lieber abbrechen und alle nach Hause schicken? Nicht, dass doch noch einer als… menschlicher Blitzableiter auftritt… Das wäre… na ja, jedenfalls sicher nicht all zu gut, oder?“
Herbert sieht sich um, schaut nach oben, wo eben ein Wolkenloch aufgeht und die Sonne herunterschaut. Dann schüttelt er den Kopf.
„Nein. Die vom Wetterdienst haben eh’ eine Meise, und wenn jetzt die Sonne draußen ist, ist doch alles in Ordnung, oder? Also, wir machen weiter. Hast Du noch einen Eimer oder soll ich Dir hier irgendwo einen besorgen… für den Abfall?“

Der Minister will nichts von alledem hören.
„Tornado, Hurrican… was denn nun noch? Wir hatten Regenwetter, wir hatten Flut, die Menschen sind verunsichert, weil die Staumauern brechen sollten, sie ihre Häuser verloren, die Arbeit immer weniger wird und sie auch noch erraten müssen, wer von uns Politikern denn wirklich umsetzen kann, was wir versprechen, obwohl wir alle fast das Gleiche erzählen… und nun kommen Sie noch mit… solch einem Mist. Sind wir hier in Amerika oder was?“
Lothar schaut ungläubig in den Hörer. Uschi steht daneben und hört mit. Die anderen Kollegen sind im Krisenstab und geben überall hin Meldungen durch. Gerade haben sie einige Privatsender dran, die natürlich um Interviews buhlen, doch dazu ist jetzt nun gerade wirklich gar keine Zeit. Wie denn? Sie müssen… na ja, das ist irgendwie… komisch. Wenn sie richtig zu tun haben, sollen sie allen zur Verfügung stehen. Ist es ruhig, kommt niemand auf die Idee, sie zu befragen… wozu und worüber auch immer.
„Gut, Herr Minister. Ich kann da auch nichts weiter machen. Aber als Experte sage ich Ihnen ehrlich, dass der Tornado sich ausprägen wird. Ganz klar. Und dann bleibt er natürlich an keiner Landesgrenze stehen. Das bedeutet, auch Brandenburg muss unbedingt informiert werden. Sonst… na ja, das wäre eine Pflichtverletzung. Wollen Sie also… oder soll ich gleich…?“
Stille am anderen Ende. Dann ein Schlucken, ein Räuspern.
„Sie erzählen mir doch Mist, oder? Sie machen sich wichtig und ich soll… nein, nein, ich lasse mich nicht vorführen, klar!“
Lothar will aus der Haut fahren, Uschi hält ihn gerade noch zurück. Dann übernimmt sie das Reden.
„Wir haben nur die Pflicht, Sie zu informieren. Natürlich wollen wir Schaden abwenden… Lieber einmal falsch als einmal gar nicht gemeldet… Das sehen Sie sicher ebenso ein, oder? Also, wir haben es hiermit gemeldet und nun können Sie gern tun, was immer Sie tun wollen. Verhindern können wir es nicht. Uns sind die Hände gebunden. Klar ist aber auch… ein Tornado kann Menschenleben kosten! Guten Tag, Herr Minister!“
Sie legt auf. Lothar schaut sie lange an. Dann greift er wieder zum Telefon, wählt die Nummer auf dem Plakat. So, wie vorhin, wo sein Gegenüber ihn fast nicht verstand. Jetzt müsste dort wieder etwas Ruhe eingekehrt sein. Die Ruhe vor dem Sturm… na ja, wenn man es so sagen darf. Er schluckt, wartet. Ein Rufton ist zu hören. Scheinbar gibt es dieses Handy noch. Nun grinst er doch. Na, zu schlimm darf es einfach nicht werden. Doch man kann nie wissen… leider!
Warten… Rufen… es dauert. Vielleicht liegt dieses Telefon sonst wo und niemand hört sein Rufen?

„Ja? Was ist los?“
Herbert lauscht angestrengt. Der Wind nimmt wieder zu, alles um ihn herum pfeift und weit entfernt donnert es schon wieder, auch wenn man derzeit keine Blitze erkennen kann. Der Himmel zeigt jedoch eine Verfärbung, die mystisch wirkt. Da es nicht regnet, fehlt der Regenbogen. Der wäre vielleicht noch das i-Tüpfelchen auf die aktuelle Stimmung.
„Wer ist da? Ach, schon wieder diese Wetterwarte. Was wollen Sie denn nun schon wieder? Hallo? Ich kann Sie kaum verstehen!“
Am anderen Ende scheint jemand zu schreien, aber der Sinn der Worte ist nicht zu verstehen oder zu erahnen. Herbert meint, etwas von Wirbelsturm und Tornado oder auch nur von Wind und Regen gehört zu haben. Es ist… einfach zu laut. Er hält sich das andere Ohr zu, versucht, nun genauer hinzuhören, hat aber immer weniger Erfolg.
„Ich rufe mal in ein paar Stunden zurück, ja? Ich kann nichts verstehen. Hier tobt gerade die Hölle und ich muss zusehen, dass die Schausteller und die Gäste wegkommen. Verstehen Sie?“
Nichts. Keine Antwort, keinerlei Reaktion. Hat der Spaßvogel vielleicht gar aufgelegt? Das wäre noch ein stärkeres Stück! Erst macht der ihn fertig, nervt ihn die ganze Zeit und dann… na ja, er sollte sich nicht zu sehr ärgern. Ja, das Fest ist im Eimer. Im wahrsten Sinne des Wortes… Er schaut über den Platz. Dann hebt er den Arm… Die, die ihn beobachteten, sehen ihn schon und nicken, winken zurück und kommen zum vereinbarten Platz neben Kunos Stand.
Es dauert nicht lange, dann stehen sie schon dort, schauen ihn erwartungsvoll an. Er blickt nach oben, nickt schließlich.
„Abbau… das bringt hier nichts mehr. Ja, ich weiß, der Regen ist gerade weg. Aber schaut Euch mal diese Wand dort hinten an. Wenn der Kram hierher kommt, dann…“
Sie blicken nach oben, dann in die eben bezeichnete Richtung, trauen ihren Augen nicht.
„Verdammt noch eines… das ist doch… das geht gar nicht… das kann… Mann!“
Sven, der Herbert eben noch fragend ansah, rennt jetzt. Jana ist noch am Stand, er sollte allein bei Herbert zuhören und dann berichten. Jetzt aber wird es eng. Die kleine Gesellschaft stürmt auseinander, als sie erkennt, wie sich der Luftwirbel unter den dunklen Wolken zu einem Trichter formt, immer weiter dem Boden entgegenstrebt und ihn fast berührt. Irgendwie vibriert die Luft und das Tosen des Windes wird nun zum Toben des Sturmes, in das sich ein Pfeifen mischt, das in den Ohren wehtut.

„Schnell… SCHNELL… DEN STAND ZUSAMMENKLAPPEN!“
Jana nickt und gemeinsam versuchen sie es.
Es ist ein Donnern, ein unendlich lautes Krachen um alle herum. Regenwasser peitscht zu Boden, Blitze schlagen überall ein. Feuer ist zu erkennen, das nicht vom peitschenden Wasser des Himmels gelöscht werden kann. Alle, die sich noch mit ihren Ständen beschäftigten, rennen plötzlich davon, als sich die ersten Dachplatten von Kunos Getränkepavillon lösen und ebenso durch die Luft wirbeln. Dann folgt der Trichter, der eine Schneise durch die gerade noch so stabile alte Klostergartenmauer reißt, direkt auf Herberts Stand zurast, der eben schon brannte. Seine Frau schreit auf, rennt zur Seite, Herbert dreht sich just in dem Moment um, als der Trichter ihn bereits erfasst…
Niemand schaut hin… alle sehen hinüber zu Sven und Jana, deren den Stand sicherndes Staket zerschlagen wird, sich nach oben schraubt und einfach verschwindet. Ungläubig stieren alle auf den Platz, wo eben noch deren Stand auf das Einräumen wartete.
Kuno stöhnt auf, als seine letzten Regale zerbrechen, einiges Holz nach oben rast, dann wieder gen Erde donnert, um schließlich nicht nur zerbrochen, sondern zu einer undefinierbaren Masse verunstaltet auf den Boden zu schlagen. Er schluckt schwer, sieht dann die Flammen um Herberts Stand, denkt daran, dass der Blitz vorhin noch seinen Abfalleimer zerlegte, nun ein anderer wohl das schon triefend nasse Holz traf, es wohl im Moment des Zusammentreffens trocknete und gleich in Flammen setzte…
Vorbei. Der Stand brennt. Hoffentlich ist der langjährige und anerkannte Kollege gut versichert!
Kuno greift sich an den Kopf. Woran man so denkt… Dann spürt er einen Schmerz und alles um ihn herum wird dunkel.

Im Wetteramt schaut man gebannt auf die Monitore. Die Satelliten verrichten wie immer ihre Arbeit. Nichts scheint sie aufzuhalten, gar zu stören. Lothar gibt nur ein paar Anweisungen, schickt weitere Meldungen an DPA, DWD und andere Dienste und Studios. Er weißt immer im Nachsatz darauf hin, dass man die zuständigen Stellen bereits im Vorfeld informierte. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Gerade wenn solch eine zerstörende Kraft ihr Unwesen treibt.
„Bekommen wir Bilder vom Boden?“
Er weiß es genau. Die sind viel zu undeutlich, können niemals einen sicheren Überblick über das Ausmaß liefern. Aber er fragt… und Uschi schaltet noch einen Monitor ein, holt das, was man herausholen könnte, auch heraus. Fassungslos erkennen sie eine Schneise, die knapp an der Stadt Nossen vorbei auf die Autobahn zurast.
„Zu spät! Hoffentlich sehen es die Fahrer und halten zeitig genug an… verdammt!“, meint Lothar und weiß… zu spät. Viel zu spät!

Der Minister verschluckt sich beim Nachmittagstee. Kaffee verträgt er schon lange nicht mehr. Er lacht erst, als man ihm die Meldung in die Hand drückt.
„Nun übertreiben es die Wetterfritzen aber, oder?“
Dann liest er genauer.
Schneise, Bäume, knapp an Nossen vorbei, Schäden an der Autobahn A14 zwischen Nossen und Döbeln, vermutlich Menschenleben zu beklagen, auf jeden Fall viel Blechschrott. Und außerdem ging dieser Tornado… Er überlegt. Tornado. Wirklich ein Tornado? In Sachsen und nicht in den USA? Dann schüttelt er sich und liest weiter. Der Tornado entfaltete seine größte Kraft direkt vor der alten Klosterruine Altzella bei Nossen, wo gerade übers Wochenende das Mittelalterspektakel ‚Expedito’ stattfand. Die Folgen, Schäden, Opfer auf eben jenem Fest sind noch gar nicht einzuschätzen.
„Verdammt!“
Krach… damit sauste seine Hand auf den Tisch und die Teetasse geht in Tausende Stücke. Er schaut gar nicht hin, sucht nach dem Handy und wählt die Direktnummer des Ministerpräsidenten, der eben zu einem Arbeitsbesuch in Paris weilt. Ob der davon in der Ferne überhaupt etwas mitbekommt?
„Ja, pass auf… ich hier. Wir haben hier ein Problem… nein, keine Wahl, auch nichts mit den Nazis oder den Linken. Ja, Wetter. Tornado. Ungeahnte Ausmaße… der rast gerade auf Brandenburg… oh verflucht, ich muss die auch informieren. Ja, ich melde mich später wieder. Tschüss!“
Klick. Die nächste Nummer. Zum Glück sind die wichtigsten der Region eingespeichert. Wäre ja noch schöner… der Minister fragt bei der Auskunft nach der Telefonnummer des Amtskollegen in Potsdam. Nein, alles klar.
„Notstand. Ja, ja, ein Tornado. Ach, Ihr wisst schon… na ja, auch gut. Was? Nein, oder?“
Fassungslos hört er, dass sein Amtskollege im Norden bereits Evakuierungsmaßnahmen einleitete, sich von niemandem reinreden ließ und das Technische Hilfswerk unterwegs ist, die Bundeswehr in Alarmbereitschaft versetzt wurde, man eine Sondersitzung einberief, um schneller koordinieren zu können.
„Ach, ja, Entwarnung? Na, das ist aber schön!“
Er greift sich an den Kopf. Seine eigenen Wettermänner in Leipzig hatten nicht nur recht, sondern fanden auch noch Gehör… bei dem da. Verdammt, denkt er. Das gibt Ärger. Der Tornado aber, der baut sich ab, der verliert an Stärke. Dort, wo man sicherte, wird nichts geschehen. Nur er… war die Plinse. Er schluckt schwer. Er hat es vermasselt. Seinem Chef gefällt das sicher nicht.

Das Ausmaß der Schäden ist nicht wirklich einzuschätzen. Die Jahrhunderte alten Klostermauern sind nur noch ein Trümmerhaufen, am alten Mausoleum der Wettiner ging der Tornado so nahe vorbei, dass gar Risse im Fundament und in den Mauern entstanden, während das Dach nicht beschädigt scheint. Der Klostergarten wurde verwüstet und die Mulde unterhalb hat nun eine Furt, über die man einfach hinüberkommt, weil das Wasser weit in die Wiesen fließt und der kleine neu entstandene Damm es noch weiter dahin umleitet.
„Oh Mann, das ist ja…“
Rolf, der Leiter des Technischen Hilfswerkes und hier beauftragt, den Einsatz zu koordinieren, will am liebsten gar nicht hinsehen, doch er darf die Augen nicht verschließen.
Ohne eine Wertung abzugeben, geht er über ein Schlachtfeld, jedoch nicht die freie Fläche, auf der sich vor Stunden noch Wikingerhorden gegenüberstanden, sondern jene Plätze, auf denen die Buden zu finden waren, Gaukler spielten und Feuer spuckten, man vieles kaufen konnte, das zum einen herrlich satt und benommen macht, zum anderen an das frühe Mittelalter erinnert. Kleidung, Waffenimitate, Schmuck und gar eine Ritterrüstung soll es gegeben haben. Zu finden ist kaum etwas. Nur noch Schutt und Zerstörtes.
Gerade sind einige dabei, die Menschen zu zählen. Wenigstens unter den Schaustellern sollte es eine Übersicht geben. Die Zahl der Besucher, die nach dem starken Regen nicht verschwand, kann man nicht einschätzen oder auf Vollzähligkeit überprüfen, denn niemand scheint noch eine Übersicht zu haben.
„Wo ist eigentlich Herbert?“
Seine Frau stiefelt etwas kopflos durch die Gegend, sucht ihren Mann. Rolf will ihr helfen, aber ein Kollege kommt und zeigt ihm etwas Blut an einer Stelle, wo man wohl Getränke verkaufte. Gleich ist Kuno da und erklärt, dass er einen Teil seiner Tresenbretter an den Kopf bekam, es ihm aber schon wieder ganz gut geht. So, wie er mit blutverschmiertem Gesicht aussieht, kann man das kaum glauben. Rolf schickt ihn zum Einsatzwagen. Dort ist auch ein Arzt und der Krankenwagen soll bereits auf dem Wege sein. Verrückt… an so etwas glaubt doch niemand! Tornado… na ja.
Dann widmet sich Rolf wieder der umherirrenden Frau.
„Wer sind Sie denn? Und wen suchen Sie? Hallo, Frau… ähm…“
Sie schaut ihn an.
„Ich bin die Elfriede und ich suche meinen Herbert… HERBERT… Hallo, Herbert… wo bist Du denn?“
Rolf will sich an den Kopf fassen, doch dann fallen ihm Kunos Worte ein. Herbert… so heißt doch der Veranstalter hier, oder? Er schluckt und lässt sich das von dieser Elfriede bestätigen.
„Nein, nein, er bekam eben einen Anruf. Ich weiß auch nicht. Kam wohl von der Burg oder so. Er schwafelte noch etwas von, ‚Die nehmen uns auf’ oder so und dann… habe ich ihn nicht mehr gesehen. Weiß auch nicht…“
Kuno steht ganz aufgelöst vor den letzten Trümmern seines Standes, hat nicht einmal mehr einen Becher, mit dessen Hilfe er sich einen Schluck vom noch zur Hälfte gefüllten Metfass gönnen könnte. Nichts mehr drin…? Doch, aber eben nichts da, woraus man trinken könnte.
„Der war hier?“
Rolf schaut auf den Boden, lässt auch die Kollegen antanzen, die sich gleich ein Bild vom Hergang zu machen versuchen. Nur mit mäßigem Erfolg zwar, aber immerhin.
Dann sieht er etwas am Boden blitzen. Er schiebt ein wenig Dreck und ein halbes Brett zur Seite und greift zu. Noch in der Bewegung schimpft er sich einen Trottel, denn es könnte sich ja um heißes Metall handeln, was ihm sicher einige Brandverletzungen einbrächte, aber dem ist nicht so.
„Hmm… Handy. Kennen Sie das? Einfaches Modell… schon ein paar Mal notdürftig repariert und geklebt oder so…“
Elfriede kommt eben vorbei, entdeckt das Teil in Rolfs Hand und rennt auf ihn zu.
„Herberts Handy. Das gehört Herbert… da, sehen Sie, da ist meine Nummer! Da, rufen Sie mal… oh, das Ding klingt komisch!“
Das kleine Technikwunder zischt kurz nach der Suche im Telefonbuch und gleich erlischt das Display. Wurde sicher nass. Wasser ist so in etwa das Letzte, was diese kleinen Dinger vertragen. Trotzdem sah Rolf noch den Eintrag ‚Elfriede’ aufblitzen, ehe alles dunkel wurde.

Es dauert drei Stunden. Dann steht fest, dass alle Stände Makulatur, also Müll sind, zerstört und nicht mehr zu retten. Die Verkäufer von Schmuck und Kleidern finden im weiten Umkreis noch einige wenige vielleicht zu rettende Stücke, aber alles Andere ist fort oder unbrauchbar. Doch noch etwas wiegt viel schwerer.
„Drei Personen. Drei fehlen… drei können wir zumindest nachweisen. Und… klar… dieser Sven wäre nie ohne seinen Transporter verschwunden. Da ist etwas passiert. Ganz klar!“
Kuno setzt sich als Sprachrohr der Händler durch.
„Herbert, Sven und Jana. Komische Zusammenstellung. Leder, Lesen und Kräuter… na ja, wer weiß. Hat die jemand gesehen?“

Alle schütteln ihre Köpfe. Elfriede schaut sich um und heult in einem Fort. Rolf versucht, ihr einen Psychologen an die Seite zu stellen, aber sie schickt jeden fort. Verdammt, denkt er. Hier muss die Polizei ran. Das schafft er nicht allein. Dann greift er zum Handy.

...



Jetzt bei Amazon bestellen!

 

Taschenbuch:

Expedito

 

Fürs Kindle:
folgt